16. Januar 2015 | Dipl.-Met. Helge Tuschy
Wenn der Skorpion zusticht
In den vergangenen Wochen entwickelten sich über dem Nordatlantik, zum Teil auch über der Nordsee teils kräftige Sturm- oder Orkantiefs, die besonders in der Mitte und im Norden Deutschlands wiederholt für Sturm sorgten. Doch welche Regionen eines Tiefdruckgebietes bergen die größte Sturmgefahr für das Tiefland?
Um dies zu verstehen, müssen wir neben dem allgemein bekannten
Konzept des "Norweger Zyklonenmodells" auch ein anderes Konzept der
Tiefdruckentwicklung betrachten: die sogenannte
"Shapiro-Keyser-Zyklogenese".
Während der Entwicklung eines Tiefdruckgebietes wird warme und
feuchte Luft vorderseitig des Tiefs nach Norden geführt. Diese Luft
schiebt sich sukzessive über die vorgelagerte kältere Luftmasse und
beginnt aufzusteigen. In der Meteorologie wird dieser Vorgang als
"warmes Förderband" (engl. : "Warm Conveyor Belt") bezeichnet. Durch
die Hebung setzten verbreitet Kondensation und Wolkenbildung ein. Es
ist eine entsprechend lange Nord-Süd ausgerichtete Wolkenschleppe zu
erkennen, die sich entlang und vorderseitig der Kaltfront und über
die Warmfront nordwärts verlagert.
Wenn sich das Tiefdruckgebiet nun weiter verstärkt wird von Osten
vorderseitig der Warmfront kältere Luft angezapft und in Richtung
Tiefzentrum geführt. Dabei strömt die kalte und schwere Luft unter
dem nach Norden vorstoßenden warmen Förderband nach Westen und
beginnt sich im Verlauf der Tiefdruckentwicklung teils um das
Wirbelzentrum des Tiefs zu wickeln, teils wird sie nach Norden
abgelenkt. Dies wird als "kaltes Förderband" (engl. : "Cold Conveyor
Belt") bezeichnet.
Der dritte Luftstrom entwickelt sich an der West- und Südflanke des
Tiefs, wenn aus der oberen Troposphäre oder gar der unteren
Stratosphäre stabil geschichtete und trockene Luft zunächst südwärts
und dann ostwärts um das Tiefzentrum geführt wird: "trockenes
Förderband" (engl. : "Dry Conveyor Belt"). All diese
unterschiedlichen Strömungen interagieren in Zentrumsnähe und sorgen
neben weiteren physikalischen Begebenheiten je nach Ausprägung für
unterschiedlich starke Tiefdruckentwicklungen. Für die bildliche
Vorstellung dieser unterschiedlichen Luftströmungen ist nebenstehend ein Übersichtsbild
beigefügt, welches im Zuge des COMET Programms erstellt wurde.
Die Entwicklung einer Shapiro-Keyser-Zyklone ist grundsätzlich dem
Entwicklungsprozess der Norweger Schule recht ähnlich, nur ist die
Kaltfront schwächer ausgeprägt und beinahe orthogonal zur Warmfront
ausgerichtet. Die Kaltfront ist außerdem von der Warmfront getrennt.
Derweilen ist die Warmfront die wetteraktivste Front und sorgt für
einen exzessiven Transport von warmer und feuchter Luft zum Zentrum
des Tiefs. Dabei wird diese Luft um das Zentrum des Tiefs gewickelt
und ab einem gewissen Entwicklungsstadium schneidet die ostwärts
wandernde Kaltfront die Warmluftzufuhr ab. Zurück bleibt
zentrumsnahe warme und feuchte Luft, umgeben von kältere. Dieses
Stadium wird als "warmer Einschluss" (engl.:" Warm Seclusion")
bezeichnet und spiegelt besonders markante Tiefdruckentwicklungen
wieder.
Bei solch außertropischen Tiefdruckgebieten sticht besonders der
Warmsektorbereich mit sehr hohen Windgeschwindigkeiten in 1 bis 2 km
über dem Boden hervor. Allerdings ist eben genau dieser Bereich
meist zu stabil geschichtet, da sich durch die Warmluftadvektion eine
Inversion entwickelt und somit das Herabmischen der starken
Höhenwinde unterbunden wird. Daher sind zunächst häufig die
Bergregionen vom stärksten Windfeld betroffen oder auch die
Küstenbereiche, wo die Luftmasse besser durchmischt ist. Für das
Tiefland liegt der Fokus für die höchsten Windgeschwindigkeiten nicht
selten erst beim Durchzug der Kaltfront, wo mit plötzlich
einsetzender Durchmischung (sichtbar durch teils kräftige Schauer
oder Gewitter) die Höhenwinde vorübergehend bis in tiefe Lagen
herabgemischt werden können mit dem entsprechend größten
Böenpotential.
Allerdings gibt es noch einen weiteren Bereich entlang einer Zyklone,
die für das Auftreten von heftigen Windentwicklungen weitaus
gefährlicher sein kann. Es ist der zentrumsnahe Südwest- bis
Südquadrant eines Sturm- oder Orkantiefs.
Welche physikalischen Prozesse nun letztendlich die auschlaggebenden
für die Entwicklung der markanten Bodenwinde sind, ist bis heute
weiter Gegenstand von Untersuchungen. Wie schon angedeutet tritt
solch ein markantes Windereignis besonders bei sich rapide
verstärkenden Tiefdruckgebieten des Shapiro-Keyser-Modells auf,
sodass der resultierende enorme Druckgradient in Zentrumsnähe bereits
für ein sich rasch verstärkendes Windfeld sorgt. Zudem gelangt die um
das Tief geführte Luftmasse in den Bereich der herabsinkenden
trockenen Höhenluft, sodass auch noch Verdunstungsabkühlung für eine
zusätzliche Verstärkung des Windfeldes führt. Da kalte Luft schwerer
ist und rascher absinkt, wird durch diese Abkühlung die
Windgeschwindigkeit zusätzlich erhöht. Zuletzt sei noch erwähnt,
dass durch das Absinken der Luft von größeren Höhen entsprechend hohe
Windgeschwindigkeiten zum Boden transportiert werden können. Südlich
des Tiefzentrums und somit rückseitig der Kaltfront ist die Luftmasse
bodennah gut durchmischt und die sehr starken Winde können ohne
größere Abschwächung bis zum Boden durchgreifen. Ein Beispiel hierfür
war das Orkantief ELON vom 9. Januar 2015, welches über dem Norden
Schottlands für wenige Stunden u.a. folgende maximale Böenspitzen
erzeugte: Loch Glascanoch (264 m) mit 178 km/h und Stornoway (15 m)
mit 181 km/h. Orkan Christian vom 28.10.2013 wies ebenfalls solch
eine Struktur auf und brachte den küstennahen Bereichen im Nordwesten
Deutschlands enorme Windgeschwindigkeiten (z.B. St. Peter Ordning (11
m) mit 173 km/h).
Aus der Sicht von Satellitenaufnahmen sieht die um das Zentrum
herumgewirbelte Luft aus wie der Schwanz eines Skorpions. Die
"giftige" Spitze wird in dem Fall durch das Bodenwindfeld mit den
extrem hohen Windgeschwindigkeiten repräsentiert. In der
Meteorologie wird dies auch unter dem Begriff "sting jet"
beschrieben, wobei der "Stich des Skorpions" das Durchziehen des
Windmaximums darstellt.
Dieses Phänomen wird besonders häufig bei marinen Tiefdruckgebieten
über den Ozeanen beobachtet, kann jedoch wie z.B. bei "Christian"
auch Kontinente betreffen. Es bleibt nur zu hoffen, dass wir bis auf
Weiteres vom bildlich gesprochenen "Stich des Skorpions" verschont
bleiben.
© Deutscher Wetterdienst
Bild: DWD
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