Die Nacht neigt sich dem Ende entgegen. Flacher Nebel umhüllt in samtigem Weiß die Wiesen und Felder. Die Grasspitzen sind von einer mächtigen Reifschicht überzogen. Ein paar Wildschweine durchkämmen mit deutlich sichtbarem Atem die Wälder nach etwas Essbarem. Im Osten setzt die Morgendämmerung ein. Vom Fernsehturm, dem Brandenburger Tor oder der Charite - unverkennbaren Merkmalen der Berliner Skyline - ist allerdings nichts zu sehen, zu weit sind ihre Silhouetten entfernt. Ein Szenario, wie es sich jeden Winter unzählige Male am Nordwestrand der Bundeshauptstadt abspielt. Die Rede ist vom sogenannten "Eiskeller".
Dabei handelt es sich um ein circa 50 Hektar großes Areal im nordwestlichsten Zipfel des Berliner Stadtteils Spandau (Ortsteil Hakenfelde), das aus Wiesen und Äckern besteht. Die dort platzierte Wetterstation mit der offiziellen WMO-Kennung 10380 befindet sich 32 Meter über dem Meeresspiegel. Eiskeller gilt im Winter neben dem Kaniswall am östlichen Stadtrand als die kälteste Region Berlins. In klaren, windstillen Nächten liegen die Temperaturen nicht selten bis zu 10 Grad unter denen im Stadtzentrum (siehe Grafik).
Diese meteorologische Besonderheit (Mikroklima) machten sich die Bauern aus der Gegend schon vor Jahrhunderten zu Nutze - und "verhalfen" dem Eiskeller so zu seinem Namen. Überlieferungen zufolge haben sie im Winter Eis aus dem nahe gelegenen Falkenhagener See gehackt, in ihren Kellern zwischengelagert und schließlich an Brauereien und Krankenhäuser verkauft.
Der heutige Eiskeller hieß früher Teufelsbruch. Das Gelände wurde 1830 unter 18 Staakenern (Ortsteil Spandaus) und Spandauern aufgeteilt - als Tauschgelände für weit entfernte Grundstücke. Mit dem Mauerbau wurde Eiskeller zur Exklave. Bis auf einen schmalen Weg zur Schönwalder Allee war das Areal komplett von DDR-Gebiet umgeben. Im Jahre 1971 und 1988 wurden die Eiskeller umgebenden Areale von der DDR an das Land Berlin übergeben. 1959 lebten in Eiskeller sechs Personen und auch heute sind es lediglich drei Familien. Mitte der 70er-Jahre bekamen die Bewohner Telefon. Die Bewag - der örtliche Stromlieferant - nahm Eiskeller 1978 ans Netz.
Aufgrund seiner offensichtlich exponierten Lage, steht das Gebiet bei Meteorologen seit jeher hoch im Kurs. Schon 1959 errichtete das Meteorologische Institut der Freien Universität dort seine erste Wetterstation. Ab 1981 stand die Station dann auf dem Grundstück von Martin Schabe. Dreimal am Tag musste der Bauer die Temperatur ablesen. Alle zwei Wochen kam ein Mitarbeiter der Universität persönlich vorbei, um die ausgefüllten Tabellen abzuholen. Fast 15 Jahre hat Herr Schabe akribisch Buch geführt, Nächte mit minus 25 Grad waren dabei nichts Ungewöhnliches. Heutzutage wirkt diese Aussage gefühlt wie ein Relikt vergangener Zeiten.
Zur meteorologischen Wahrheit gehört allerdings auch, dass in den Sommermonaten von der Station Berlin-Eiskeller Hitzerekorde vermeldet werden. So schnell und effektiv das von Wäldern umgebende steppenartige Wiesen- und Ackerland bei klaren Verhältnissen nachts auskühlt (langwellige Ausstrahlung), erwärmt es sich tagsüber bei voller Sonneneinstrahlung auch. Aufgrund seiner isolierten, windgeschützten Lage wird eine ausreichende Luftzirkulation (Durchmischung) oftmals verhindert. Wie sagt man im Volksmund so schön: "Die Luft steht!" - im wahrsten Sinne des Wortes. So wird aus einem Eiskeller im Handumdrehen gewissermaßen ein "Schweißkeller".