Am frühen Morgen des 29. Septembers (vergangenen Sonntag) wurde über dem tropischen Atlantik Geschichte geschrieben. Der Wirbelsturm LORENZO intensivierte sich zu einem extrem starken Hurrikan der höchsten, fünften Kategorie. Nie zuvor wurde ein Hurrikan der fünften Kategorie so weit östlich über dem tropischen Atlantik beobachtet (rund 1000 km östlicher als der bisherige Rekordhalter). Die geschichtsträchtige Entwicklung von LORENZO ist Folge einer Kombination sehr "günstiger" atmosphärischer und ozeanischer Bedingungen, wie geringe Windscherung und sehr hohe Meeresoberflächentemperaturen.
So weit draußen auf dem Atlantik möchte man aber meinen, er gefährde kein bewohntes Gebiet. Das war bisher der Fall und wird über weite Strecken seines Lebens auch so bleiben. Doch ein kleiner Inselarchipel befindet sich leider in direkter "Schussrichtung" von Hurrikan LORENZO. Auf seiner Zugbahn nach Nordosten nähert er sich unaufhaltsam den Azoren, wo er voraussichtlich am morgigen Mittwoch aufschlägt.
Die Azoren als Namensgeber für das im klimatologischen Mittel dort anzutreffende großräumige Hochdruckgebiet gelangt selten ins Fadenkreuz tropischer Wirbelstürme, schon gar nicht solch starker. Doch die außergewöhnliche Geschichte von LORENZO macht es möglich. In den vergangenen 50 Jahren erfassten lediglich 20 tropische Stürme die Azoren, davon waren gerade einmal 4 Hurrikane der ersten Kategorie. Die Inseln werden also rein statistisch betrachtet nur alle 12 Jahre von einem Hurrikan erwischt. Der stärkste Hurrikan, der die Azoren direkt traf, war "Hurrikan 8" des Jahres 1926, ein Kategorie-2-Sturm mit mittleren Windgeschwindigkeiten von knapp 170 km/h.
Bisher richtete keiner der Wirbelstürme der vergangenen 50 Jahre größeren strukturellen Schaden an. Das könnte sich mit LORENZO ändern. Zwar schwächte er sich im Hinblick auf die Windgeschwindigkeiten bereits deutlich ab, wodurch er zurzeit "nur" noch als Kategorie-2-Hurrikan eingestuft wird. Allerdings gewinnt er immer mehr an Größe. Die enormen Ausmaße und die Langlebigkeit machen LORENZO zu einem gewaltigen Wellengenerator. Vor allem an der Südwestflanke des Sturms schaukeln sich die Wellen bis zu einer Höhe von 5 bis 10 Metern auf, räumlich eng begrenzt unmittelbar südwestlich des Kerns bis zu einer Höhe von 15 Metern - eine riesige Gefahr für die Schifffahrt. LORENZO wird am Mittwoch wahrscheinlich mit Kern nahe an den azorischen Inseln Flores und Corvo vorbeiziehen. Aufgrund der Ausmaße werden aber nicht nur die nordwestliche Inselgruppe, sondern auch der zentrale Teil des Archipels die Wucht des Sturms zu spüren bekommen. Der hohe Wellengang bringt dort an den Küsten lebensgefährliche Strömungen, sog. "Brandungsrückströme" mit sich, der Wellenschlag könnte zu großen Erosionsschäden und Überflutungen führen. Zudem muss mit Orkanböen zwischen 120 und 150 km/h, nahe des Sturmzentrums vereinzelt auch mit extremen Böen bis 180 km/h gerechnet werden, die ebenfalls hohes Schadenspotenzial entfalten. Auf den teilweise hohe Bergen (höchster Berg ist Ponta do Pico mit über 2300 Meter ü.NN.) sind Böen jenseits der 200 km/h wahrscheinlich.
Und dann? Droht uns in Europa ein Hurrikan, wie es bereits in einigen Boulevard-Medien zu lesen und hören war? Nein! Fakt ist, LORENZO zieht weiter nach Nordosten und nähert sich Westeuropa. Doch zum einen trifft er, bevor er irgendein Land bedroht, auf die Polarfront (siehe Wetterlexikon) und wandelt sich dabei in ein außertropisches Tief um. Dabei verliert er die Eigenschaften eines Hurrikans. Zum anderen ist noch unklar, wohin sich das aus dem Hurrikan hervorgehende Sturmtief danach verlagert. Möglicherweise dreht er vor den Küsten Irlands noch nach Norden ab und bleibt damit ein "Fischsturm". Es kann aber auch sein, dass Ex-LORENZO auf Irland oder Schottland trifft, allerdings unter Abschwächung, sodass die Auswirkungen nicht mehr mit denen eines ausgewachsenen Hurrikans vergleichbar wären. Dennoch besteht für Irland und Schottland Donnerstag und Freitag ein erhöhtes Sturmpotenzial!