Der saisonale Zyklus der Meereisschmelze wird durch die jahreszeitlichen Temperaturänderungen angetrieben. Der Schmelzprozess beginnt in der Regel Ende März an den äußeren Rändern der Eisbedeckung, wenn die Tage länger werden und der Einfluss der Sonne über den nördlichen Breiten stark genug ist und somit auch die Temperaturen steigen. Im April und Mai verlief der Rückgang aufgrund von überwiegend unterdurchschnittlichen Temperaturen langsamer als üblich, sodass die Arktis aus dem Frühjahr heraus in die Sommermonate mit einer im Vergleich zu vielen Vorjahren größeren Meereisausdehnung startete (siehe Thema des Tages vom 12.06.2022).
Insgesamt hatte die Schmelzsaison im Sommer 2022 einige bemerkenswerte Besonderheiten. Der Verlust der Ausdehnung war über weite Strecken des Sommers weniger extrem als in den letzten Jahren. Der Eisverlust in der Spätsaison war jedoch stark und drückte den Septemberdurchschnitt. Grundsätzlich war der Rückzug der Eiskante nach Norden in keiner Region in der Arktis besonders extrem, wobei die Oberflächenschmelze in den Regionen entlang der russisch-sibirischen Küste etwas früher als im Durchschnitt einsetzte.
Die Lufttemperaturen fielen in großen Teilen des Arktischen Ozeans zwar überdurchschnittlich aus, allerdings nicht so extrem wie in vielen Sommern der letzten Jahre. In weiten Teilen des Arktischen Ozeans lag die Sommertemperatur (Juni, Juli, August) um 1 bis 3 °C über dem langjährigen Mittel. Lediglich in Teilen der Barentsee waren es bis zu 4 °C. Nur von der südlichen Tschuktschen- bis in die nördliche Beringsee fiel die Abweichung vom Durchschnitt um -1 °C leicht negativ aus.
Über die Sommermonate haben sich ausgedehnte Hoch- oder Tiefdruckgebiete eher südlich des Polarkreises gebildet und einen direkten Luftmassenaustausch zwischen der zentralen Arktis und den mittleren Breiten blockiert. Hierdurch kam es in der zentralen Arktis nicht zu starken Warmlufteinbrüchen. Zudem waren im Mittel nur schwache Druckgradienten vorherrschend und wurden nur vorübergehend mal durch durchziehende Wettersysteme stärker. Die schwachen Druckgradienten führten zu relativ geringen Oberflächenwinden und somit auch zu einer reduzierten Meereiszirkulation über den Großteil des Sommers.
Das diesjährige Meereisminimum wurde nach Satellitenauswertungen des Alfred-Wegener-Instituts am 16. September erreicht und betrug 4,79 Millionen Quadratkilometer. Das amerikanische National Snow and Ice Data Center (NSIDC) legte das Minimum etwas später auf den 18. September mit rund 4,67 Millionen Quadratkilometer. Trotz der leicht unterschiedlichen Werte ist das arktische Meereisminimum das zehntniedrigste in der fast 44-jährigen Satellitenaufzeichnung.
Seit Mitte September nimmt die Meereisbedeckung wieder kontinuierlich zu und hat bis zum 20.10.2022 eine Fläche von rund 7.2 Millionen Quadratkilometer erreicht. Schaut man nochmal gemittelt zurück auf den gesamten September 2022 ergab sich eine Meereisausdehnung von durchschnittlich je nach Institut 5,0 (AWI) oder 4,87 (NSDIC) Millionen Quadratkilometer. Damit wird der September je nach Auswertung auf Platz 12 oder 11 der Negativliste der Absolutwerte der Meereisausdehnung rangieren.
Insgesamt hat der diesjährige Sommer wie im vergangenen Jahr der Eisdecke nicht außergewöhnlich stark zugesetzt, dennoch ist der allgemeine Abwärtstrend der minimalen Ausdehnung seit 1979 ungebrochen und beträgt rund 12,3 % pro Jahrzehnt. Der Verlust an Meereis beträgt etwa 78.500 Quadratkilometer pro Jahr, was in etwa der Größe unseres südöstlichen Nachbarlandes Österreich entspricht.
Neben der rückläufigen Ausdehnung der Meereisbedeckung, nimmt auch die Qualität der Eisdecke zunehmend ab. Seit Mitte der 1980er Jahre hat allgemein der sommerliche Verlust von mehrjährigem Eis (mit einem Alter von 3 oder mehr Jahren) zugenommen. Dadurch hat sich das Meereis hin zu einer deutlich dünneren, jüngeren und instabileren Eismasse gewandelt. Ein Hinweis auf die Veränderung hin zu weniger verdichtetem Eis sind auch sich häufiger öffnende Polynjas. Eine Polynja ist eine ausgedehnte, relative beständige, offene Wasserfläche oder nur dünne Meereisschicht. Sie kann eine Fläche von mehreren tausend Quadratkilometern erreichen. Besonders auffällig in diesem Sommer war etwa die Bildung von relativ persistenten Polynjas nördlich der Karasee in der zentralen Arktis bei etwa 87 Grad nördlicher Breite. Diese begannen sich Anfang Juli zu bilden und wurden mit Unterbrechungen bis Ende August beobachtet. Vermutlich ist das vermehrte Aufbrechen des Packeises einer divergierenden Eisdrift als Folge eines großen Tiefdrucksystems über der nördlichen Laptewsee Ende Juni geschuldet.