Die Schwergewitterlage vom 22. Juni 2023 hatte es im Vorfeld schon in sich. Der Wetterkochtopf war mit Zutaten gefüllt, die man als Meteorologe in Deutschland in der Zusammensetzung nur selten zu Gesicht bekommt. Neben hoher Labilität der Luftmasse (gebietsweise über 2000 J/kg CAPE) und Feuchte (teils über 40 mm Flüssigwassergehalt) kam auch noch eine ordentliche Portion Windscherung (Windänderung mit der Höhe) mit dazu. Neben 50 bis 60 Knoten Scherung bis in die mittlere Troposphäre (6 km) war auch die Scherung in der Grundschicht zwischen 0 und 1 km Höhe teils deutlich ausgeprägt. Das lässt die Alarmglocken schrillen, denn in dieser Zusammensetzung steht der Bildung von Superzellen und damit auch möglichen Tornados kaum noch etwas im Wege.
Für diese Zusammensetzung verantwortlich war unter anderem ein ausgeprägtes Bodentief, welches Deutschland im Tagesverlauf von West nach Ost überquerte. Die daran gekoppelte Winddrehung begünstigte die Entstehung von Superzellen enorm. Gleichzeitig sorgte das Bodentief dafür, dass sich diese Gewitter auch bilden konnten.
So kam es dann letztendlich auch. Das Rennen machte dabei eine Superzelle, die sich im Umfeld des Rheintales und des Siebengebirges bildete, und anschließend von dort über das Rothaargebirge nach Nordhessen und Kassel, und von dort weiter Richtung Südniedersachsen in Richtung Berlin zog. Von dieser „Zelle des Tages” haben Sie vielleicht in den Nachrichten gehört oder gelesen. Sie brachte unter anderem in Kassel schwere Überschwemmungen durch heftigen Starkregen, großen Hagel (5 bis 6 cm wurden durch Beobachtungen in der WarnWetter-App des DWD dokumentiert) und Orkanböen. Diese drei Begleiterscheinungen in Kombination führen im Moment des Auftretens zu einem wüsten und chaotischen Bild für den Beobachter. Bei Sichtweiten von nahezu Null werden Niederschlag und Hagel in Orkanstärke durch die Straßen geweht und vermischen sich mit Laub, Dreck und Trümmern, die ebenfalls durch die Luft fliegen.
Das ist ein extremes Ereignis, was in der Form recht selten auftritt. Dementsprechend fehlen beim Beobachter die Erfahrungswerte und er fragt sich berechtigterweise, was ihm da wohl gerade widerfahren sei. Eine der möglichen Erklärungen ist dann folgerichtig: „Das muss ein Tornado gewesen sein!”
Tatsächlich verhält sich die ganze Angelegenheit etwas komplizierter. Es gibt noch eine weitere Begleiterscheinung an Superzellen, die derartige Phänomene produziert: Den Downburst.
Von einem Downburst werden bis jetzt vermutlich nur wenige von Ihnen schon einmal etwas gehört haben. Das ist auch kein Wunder, in den medialen Darstellungen wird dieses Phänomen auch oft etwas stiefmütterlich behandelt, bzw. ist es auch einfach unbekannt. Aber damit ran an den Kern des Problems: Als Downburst wird ein extrem starker Fallwind aus einer Gewitterzelle bezeichnet. Dieser Fallwind prallt aus der Höhe auf den Boden auf und wird dann nach verschiedenen Seiten abgelenkt. Dies geht oft gleichzeitig mit sehr heftigem Niederschlag und/oder Hagel einher. Die auftretenden Böen in einem solchen Downburst erreichen dabei Orkanstärke, oft im Bereich 120 bis 140 km/h. Im Extremfall können aber sogar Geschwindigkeiten von 180 bis 200 km/h erreicht werden. Welchen Schaden ein solcher Wind anrichtet, kann man sich sicher selber ausmalen.
Der Entstehungsprozess eines Downbursts ist dabei relativ einfach zu erklären. Im klar strukturierten Abwind-Bereich einer Superzelle fällt sehr viel Niederschlag in eine – mitunter bis zu 2 km dicke – trockene Grundschicht. Dabei verdunstet ein Teil des Niederschlags und kühlt die Umgebungsluft ab. Diese wird durch die Abkühlung spezifisch schwerer und wird dadurch zusätzlich nach unten beschleunigt, während weiterhin Niederschlag verdunstet. Diese Beschleunigungskaskade setzt sich nach unten fort, bis entweder kein Niederschlag mehr übrig ist (trockener Downburst), der verdunsten kann, oder bis der Boden erreicht ist (nasser Downburst). Anschließend werden die erreichten Windgeschwindigkeiten horizontal umgelenkt und breiten sich entlang des Bodens weiter aus.
Von einem Tornado lässt sich ein solcher Downburst für den normalen Beobachter quasi nicht unterscheiden. Hinweise geben im Nachhinein einerseits die Wetterlage selbst, als auch die Art und Weise der aufgetretenen Schäden. Bei einem Tornado finden sich oft chaotische Schadensbilder, unter anderem liegen Baumstämme auf kleinstem Raum kreuz und quer verstreut. Bei einem Downburst treten die Schäden eher linear auf. Zum Beispiel werden dabei Schneisen umgestürzter Bäume in Wälder geschlagen, wobei die Fallrichtung aber meist in dieselbe Richtung zeigt. Diese Schneisen können dabei zwischen mehreren hundert Metern bis hin zu mehreren Kilometern breit sein.
Es bleibt festzuhalten, dass ein aufgetretener Tornado im Nachgang nur bestätigt werden kann, wenn entsprechende Beobachtungen und Bildmaterial vorliegen. Entweder wurde der Tornado aus der Distanz als solcher beobachtet (klar zu erkennender „Rüssel” mit nachweisbarem Bodenkontakt), oder aber er wird durch ein entsprechend gesichertes und begutachtetes Schadensbild dokumentiert. Im Falle der Schwergewitterlage vom 22. Juni 2023 wurden Schäden in erster Linie durch Downbursts verursacht. Einerseits waren diese schon sehr gut im Dopplerradarbild zu erkennen, andererseits lagen an diesem Tag durch eine ebensolche vorhandene trockene Grundschicht die Wolkenuntergrenzen oftmals zu hoch, um einen Tornado produzieren zu können. Dafür war die trockene Grundschicht für genau ebenjene Downbursts prädestiniert.
M.Sc. Felix Dietzsch
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 26.06.2023
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